Wo die Parkplatznot nun wirklich kein Problem ist
Autofreie Wohnsiedlungen galten lange als versponnener Öko-Aktivismus. Doch mittlerweile tragen auch größere Bauvorhaben in deutschen Innenstädten das Prädikat autofrei. Die Nachfrage wächst. Von Harald Czycholl
Hermann Handt ist begeisterter Radfahrer. Er zählt zu den Vorreitern einer Bewegung, die sich anschickt, deutsche Städte umzukrempeln. Handt lebt in der Klimaschutzsiedlung Kornweg im Hamburger Stadtteil Klein Borstel. Das Besondere dort: Die Bewohner haben sich vertraglich verpflichtet, auf Dauer ohne ein eigenes Auto zu leben. „Fast alles lässt sich mit dem Fahrrad transportieren“, sagt Handt. In den Fahrradschuppen der autofreien Siedlung stehen daher nicht nur Räder, sondern auch alle Arten von Gepäckträgern und Anhängern, die unter den Bewohnern fleißig hin- und hergetauscht werden. Die Kornweg-Bürger haben ihr Leben gut organisiert: Lebensmittel und Getränke werden gemeinsam bestellt und in einen Lieferkeller gebracht. In Notfällen wird ein Taxi gerufen, außerdem steht der Kleinwagen eines Carsharing-Anbieters bereit. „Das Auto wird aber kaum genutzt“, sagt Handt. Feuerwehrautos, Krankenwagen und Umzugswagen dürfen das Wohnviertel selbstverständlich befahren, auch bei einer körperlichen Beeinträchtigung dürfen die Bewohner vorübergehend ein Auto nutzen.Neuwagenkäufer werden älter
Kinder spielen mitten auf der Straße, die Eltern sitzen im Vorgarten beim Kaffee, kein Autolärm stört die Ruhe, keine Abgase ärgern die Nase und keine parkenden Autos stören den Blick: Das ist selbst mitten in der Großstadt keine Utopie ergrauter Alt-68er mehr. Wohnen und Leben ohne eigenes Auto scheint für immer mehr Menschen in den Großstädten eine reizvolle Option zu sein. In der westlichen Welt findet schon seit einiger Zeit eine vorsichtige Abkehr vom eigenen Auto statt. Als Statussymbol taugt es immer weniger, Neuwagenkäufer werden zunehmend älter. Gerade für die jüngere Generation ist ein Auto mehrheitlich nur noch ein Werkzeug, um sich bequem von einem Ort zum nächsten zu bewegen, ergab eine im Frühjahr veröffentlichte Umfrage der Markenberatung Prophet unter 1000 Bundesbürgern im Alter zwischen 18 und 34 Jahren. Knapp einem Drittel der jungen Erwachsenen sind demnach hochwertige Computer, Laptops oder Smartphones wichtiger, als ein eigenes Auto zu besitzen. Ebenfalls ein Drittel der Befragten sieht Carsharing als gute Alternative zum eigenen Auto an.Parkplatz kostet soviel wie das Auto
So verzichten vor allem in den Metropolen immer mehr Haushalte auf einen eigenen Pkw. Er koste sie nur Zeit für die Parkplatzsuche beziehungsweise Geld für einen festen Stellplatz. Wer zu einer neu gebauten Eigentumswohnung auch die Parkfläche in der dazugehörigen Tiefgarage erwerben möchte, zahlt in den Metropolen Deutschlands mittlerweile Beträge um die 30.000 Euro. Zählt man Kfz-Steuer, Reparaturen und Versicherungsprämien hinzu, legt man demnach für einen Wagen der oberen Mittelklasse im Laufe der Zeit noch einmal den Kaufpreis obendrauf. Währenddessen wird vielerorts der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und macht das eigene Fahrzeug überflüssig. Daneben setzen viele Städte auf das Fahrrad als umweltfreundliches Verkehrsmittel der Zukunft. München hat kürzlich eine Fahrradabstellsatzung verabschiedet. Das Hamburger Leihfahrrad-System „Stadtrad“ feiert immer neue Nutzerrekorde, genauso wie die deutschen Carsharing-Anbieter. Auf diesem Boden blühen eine ganze Reihe aktueller Vorstöße der Wohnungswirtschaft. „Wohnungsanbieter schaffen derzeit Angebote, die dazu verlocken, das eigene Auto abzuschaffen, weil man es schlicht nicht mehr braucht“, sagt Carolin Schneider von der Bausparkasse Schwäbisch Hall.Carsharing zum Mietvertrag
Als Beispiel nennt sie eine Initiative des Verbandes norddeutscher Wohnungsunternehmen: Seit Februar dieses Jahres arbeitet der Verband mit dem Carsharing-Anbieter Cambio zusammen. Ziel der Kooperation ist die Einrichtung von Miet-Stationen in den Wohnquartieren der angeschlossenen Unternehmen. In einigen Genossenschaften wird das Modell bereits praktiziert: Die Bewohner der Stadtgärten Lokstedt, mit 600 Wohnungen eines der größeren Bauvorhaben in Hamburg, konnten sich von Anfang an Autos teilen. Vielleicht, so Axel Horn, Vorstand des Bauvereins der Elbgemeinden, einer der Bauherren des Projekts, gehöre Carsharing in ein paar Jahren genauso zu einer Mietwohnung wie Kabelfernsehen oder Breitband-Internet. Noch sind die konsequent autofreien Siedlungen wie die Klimaschutzsiedlung Kornweg in Hamburg-Klein Borstel die Ausnahme. Doch auch große neue Bauvorhaben tragen mittlerweile immer häufiger das Prädikat autofrei oder zumindest autoarm. So soll beispielsweise in München in naher Zukunft das gesamte Areal des Schwabinger Tors autofrei werden. Möglich machen soll das eine aufwendige, unterirdische Logistik, die für reibungslose Zulieferer-Wege und gut erreichbare Parkplätze sorgen soll. Auf dem Gelände selbst sind neben einem Bikesharing-Angebot auch Segways zur Fortbewegung geplant. Auch in der Messestadt Riem im Osten Münchens, wo einmal 16.000 Menschen wohnen sollen, plant die Stadt nach ökologischen Grundsätzen: „Kompakt, urban, grün“ lautet laut Auskunft der Stadtverwaltung die Leitlinie. Einige Bauabschnitte sind vollkommen autofrei geplant, weitere sollen mit einem reduzierten Stellplatzschlüssel zumindest autoarm realisiert werden. Beim Großwohnprojekt „Mitte Altona“ in Hamburg soll das Stadtbild ebenfalls nicht von Autos beherrscht werden. Das neue Stadtquartier mit 3600 Wohnungen auf zwei benachbarten Bauabschnitten entsteht am und auf dem Gelände des heutigen ICE-Bahnhofs Hamburg-Altona, der dafür eigens verlegt werden soll. Das Planfeststellungsverfahren soll Ende kommenden Jahres beginnen, der neue Altonaer Bahnhof im Jahr 2023 seinen Betrieb aufnehmen.Erstes autofreies Viertel in der Hauptstadt
Die Planungen für das Wohnprojekt in Hamburg laufen aber bereits auf Hochtouren: Ein Architektenwettbewerb wurde gerade abgeschlossen, die Siegerentwürfe sind im Altonaer Rathaus ausgestellt. Wegen der guten Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr hoffen die Investoren, dass die zukünftigen Bewohner ihre Autos für den Weg zur Arbeit nicht nutzen, sondern sie in den Tiefgaragen des Quartiers stehen lassen. Die Initiativen für autofreies Wohnen kommen allerdings nach wie vor häufig von Baugemeinschaften und ökologisch organisierten Genossenschaften und nicht von etablierten Projektentwicklern. In Berlin etwa entsteht auf der Lohmühleninsel im Stadtteil Kreuzberg das erste autofreie Viertel der Hauptstadt unter der Regie der Genossenschaft Autofrei Wohnen Berlin. Und in Hamburg-Altona hat ein Zusammenschluss von Baugemeinschaften, das Netzwerk „Autofreie Mitte Altona“, die Forderung aufgestellt, dass das neue Stadtquartier weitgehend autofrei gestaltet wird: „Unsere Vision geht davon aus, dass im Zentrum Altonas ein neuer, mindestens genauso lebendiger, vielfältiger und diesmal eben auch ein zu 90 Prozent autofreier Stadtteil entsteht“, heißt es bei dem Netzwerk. Anknüpfen könne man an Erfahrungen von bereits existenten autofreien Projekten etwa in Hamburg, Heidelberg, Hannover, Freiburg und Köln. „Freiräume anstelle von Parkplätzen“ lautet das erklärte Ziel.Quelle: DIE WELT | © Axel Springer SE 2014. Alle Rechte vorbehalten